Gedanken zum 4. Sonntag im Advent

Nachricht 20. Dezember 2020

Kennen Sie das erste Adventslied überhaupt?

Überlegen Sie doch einmal, um welches Lied es sich handeln könnte: „Tochter Zion“ vielleicht oder „Wir sagen euch an den lieben Advent“, „Wie soll ich dich empfangen“, „Nun komm der Heiden Heiland.“ oder „Macht hoch die Tür“. Ihnen fallen bestimmt noch weitere Lieder ein, die wir im Advent sonst noch gerne und oft singen, in normalen Zeiten am liebsten gemeinsam mit vielen anderen.

Das erste Adventslied aber gehört nicht zu unseren „Klassikern“ – Sie haben es gerade in der Lesung gehört:

Der Evangelist Lukas erzählt von den allerersten Vorbereitungen auf Weihnachten, von dem, was in der allerersten Adventszeit passiert ist. Der Engel Gabriel hatte Maria die Geburt Jesu angekündigt. Und damit hat das Warten auf seine Ankunft begonnen. Maria ist zu Besuch bei ihrer ebenfalls schwangeren Verwandten Elisabeth. Elisabeth preist Maria dafür, dass sie den künftigen Herrn unter dem Herzen trägt. Und was tut Maria daraufhin?

Maria singt. Sie singt, um Gott für seine verheißene Zuwendung und sein angekündigtes Eingreifen zu danken. Für das, was ihrem Volk nun Gutes widerfahren wird. Für den kommenden Retter. Den Retter, der in dem Kind bald zur Welt kommen wird. Maria singt an dieser Stelle also das älteste aller Adventslieder. Das Magnificat – so wird dieses Lied genannt – gehört bis heute zu den am häufigsten gesungenen und gebeteten Psalmen.

Maria bedient sich bei ihrem Gesang alter Worte ihres Volkes. Sie singt mit Worten, wie sie in den Psalmen zu finden sind. Worte, die schon viele Menschen vor ihr in ähnlicher Weise gesungen haben. So stellt sie sich in eine sehr alte Tradition und knüpft an Erfahrungen an, die andere schon lange vor ihr mit Gott gemacht haben. Nur, dass Maria jetzt von der verheißenen Rettung erzählen kann, die in der Geburt ihres Kindes ganz unmittelbar bevorsteht.

Schauen wir uns den Inhalt ihres Liedes etwas genauer an:

Zunächst preist Maria das, was Gott an ihr persönlich getan hat. Sie war ja bloß ein einfaches junges Mädchen. Aber dadurch, dass sie Jesu Mutter werden wird, ändert sich ihr Status. Viele Generationen werden ihr große Ehre erweisen. So, wie viele Christen es heute noch tun. In der katholischen Kirche wird Maria sogar als Heilige verehrt, aber auch für uns Protestanten ist Maria durch ihren starken Glauben und ihre beherzte Bereitschaft ein Vorbild für viele. Maria weist in ihrem Lied allerdings auch sogleich darauf hin, dass es nicht um sie geht. Sie rühmt nicht sich und ihre herausgehobene Stellung – obwohl sie dazu allen Grund hätte. Nein, sie singt dem, der diese wunderbaren Dinge getan hat: Gott, den Retter Israels.

Maria dehnt ihr Lob noch weiter aus: Sie lobt Gott dafür, dass er zu allen Zeiten denen Barmherzigkeit schenkt, die ihn fürchten. Das heißt denjenigen, die in seinem Sinne handeln. Und Gottes Handeln, das wird von Maria in den folgenden Versen mit deutlichen Worten beschrieben. Maria singt: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ Maria verleiht hier der Hoffnung Ausdruck, dass Gott durch sein rettendes Eingreifen die bestehenden Verhältnisse komplett umkrempelt. Dazu gehört auch, dass er die Hoffärtigen zerstreut, die Reichen leer ausgehen lässt, die Hungrigen jedoch mit Gütern erfüllt. Stellen Sie sich das einmal vor: Endlich soll alles anders sein, endlich sollen verfahrene Situationen aufgelöst werden! Welch großartige Hoffnung!

Ich vermute, jeder von uns kennt Situationen, in denen Menschen versuchen, mehr Macht an sich zu reißen, als ihnen und vor allem dieser Welt guttut. Besonders in den Krisenherden dieser Welt können wir das beobachten. Mit dem Lied der Maria im Ohr können wir die aus einem solchen Verhalten resultierende Gefahr für die Menschheit noch deutlicher erkennen, können ein solches Machtstreben noch kritischer betrachten. Die Hoffnung auf Umwälzung der Verhältnisse, die von Gott kommt, macht deutlich, dass mit Macht verantwortungsbewusst umzugehen ist. Dies gilt vor allem für die große Weltpolitik, aber auch im kleinen Rahmen vor Ort.

Außerdem singt Maria davon, dass Gottes Weg mit den Menschen durch die Verheißung ihres Sohnes noch einmal eine neue Dynamik gewinnt. Gott will sich zeigen als ein Gott, der ganz eng an der Seite der Menschen steht. Dazu wählt er die weitreichendste Form, die wir uns vorstellen können: er wird selber Mensch. Das heißt, Gott kommt zu uns. Die Herrlichkeit des großen Gottes will Platz haben in unserem Leben. Das ist pure Weihnachtsbotschaft. Und diese Botschaft gilt auch uns heute, in diesem von der Corona-Pandemie und zahlreichen durch sie bedingten Einschränkungen bestimmten Advent 2020.

Dass Maria aufgrund dieser Erfahrungen, aufgrund dieser adventlichen Hoffnung ein Loblied anstimmt, ist verständlich. Sie will, dass andere die Botschaft hören, und sie will auch, dass andere mit einstimmen können. Sie bezieht letztlich damit auch uns mit in das Geschehen ein. Und auch wenn wir in diesem Advent mitten in der Pandemie auf das Singen in großer Gemeinschaft verzichten müssen, zuhause und für uns können wir trotzdem singen.

Es müssen ja nicht immer nur die fröhlichen und beschwingten Lieder sein.

Wie bei der Frau, die schon viele Jahre im Altenheim lebt. Besuch von der Familie oder von Freunden hat sie schon lange nicht mehr bekommen. Beim Blick aus dem Fenster ist nur Baustelle zu sehen und der Regen eines trüben Wintertages. Die Frau ist sehr traurig und unruhig. Vielleicht singt sie gerade lieber ein Lied wie „Meinen Jesus lass ich nicht. Er ist meines Lebens Licht; meinen Jesus lass ich nicht.“

Oder wie bei einem Schüler kurz vor der Abitur-Prüfung. Mit Mathe hat er sich immer schon schwergetan. Aber nun führt kein Weg daran vorbei, wenn er seinen Abschluss machen will. Er hat ausdauernd geübt und getan, was er konnte. Nun nimmt er all seinen Mut zusammen und geht in den Prüfungsraum. Vielleicht begleitet ihn eher ein Lied wie „Das wünsch ich sehr, dass immer einer bei mir wär, der lacht und spricht, fürchte dich nicht.“

 

Auch im Advent gibt es nicht nur Situationen der Freude. Singen bedeutet nicht immer nur Loben und nicht immer nur Fröhlichkeit. Und so gibt es auch Lieder, die in einer eher freudlosen Zeit gesungen werden können. Diese Lieder verleihen dem eigenen Empfinden Ausdruck, geben ihm Worte und bringen es damit auch vor Gott.

Heute am 4. Advent malt mir der Evangelist Lukas Maria vor Augen. Ich sehe Maria stehen und singen. Das erste Adventslied überhaupt. Ihr Lied klingt nach Gottes Frieden. Nach seinem baldigen Kommen. Ihr Lied klingt nach Hoffnung auf Rettung. Danach, dass Gott uns ganz nahe sein und uns Gutes schenken will.

Maria lädt uns ein, ihr Adventslied mitzusingen. Lassen wir uns mitreißen. Probieren wir es bei passender Gelegenheit aus. Es wird uns auch in diesem Advent guttun.

Amen.

Pastorin

Dr. Heidrun Gunkel
Luisenstraße 11
31224 Peine