Andacht zur Jahreslosung

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“

(1. Mose 16,13)

 

Vielleicht kennen Sie dieses Spiel ja auch: Ich halte mir beide Hände vor das Gesicht und rufe dem noch nicht Zweijährigen zu „Wo bin ich?“. Erstaunt blickt das Kleinkind um sich. Wenn ich die Hände vom Gesicht wieder wegnehme, freut es sich mit fröhlichem Lachen. Ein beliebtes Kinderspiel. Psychologen fanden heraus, dass für Kinder in den ersten zwei Lebensjahren all das, was nicht in ihrem Blickfeld ist, außerhalb ihres Vorstellungsvermögens liegt, für sie sozusagen gar nicht existiert. Um diesen Effekt zu erzielen, reichen die vorgehaltenen Hände schon aus. Aber deshalb darf man das Spiel natürlich nicht übertreiben. Dennoch kann es Vertrauen aufbauen, dass hinter den vorgehaltenen Händen doch noch jemand da ist.

 

Vielleicht ist es bei uns Erwachsenen mit Blick auf Gott ganz ähnlich. Es gibt immer wieder Momente, da scheint Gott verborgen zu sein. Es sind vor allem Momente, in denen wir Schweres erfahren, in denen es uns nicht gut geht. Dann ist es oft nicht leicht, Gottes Spuren in unserem Leben zu entdecken. In der Losung für dieses neue Jahr 2023 geht es darum, Vertrauen zu Gott zu haben. Die Jahreslosung stammt aus der Geschichte um Hagar. Hagar ist die Sklavin von Sarah, Abrahams Frau. Das 1. Buch Mose erzählt die Geschichten von den Erzeltern, auf die das Volk Israel seine Herkunft zurückführte. Gott hatte Abraham eine große Nachkommenschaft versprochen. Aber Abraham und Sarah hatten im hohen Alter noch gar keine Kinder. Deshalb sollte ihre Sklavin Hagar den beiden zu einem Kind verhelfen. Als Hagar tatsächlich schwanger wird, sieht sie auf Sarah herab. Das kann Sarah natürlich nicht dulden und behandelt in der Folgezeit ihre Magd so schlecht, dass Hagar schließlich davonläuft. In der Wüste ist Hagar auf sich allein gestellt, droht zu verhungern und zu verdursten.

Aber auf einmal nimmt sie die Gegenwart Gottes wahr. Von einem Engel wird ihr, ihrem Kind und dessen Zukunft ein gutes Leben und Segen zugesprochen. Die Erzählung erklärt an dieser Stelle, wie es dazu gekommen ist, dass es neben Israel noch andere Stämme im Norden der arabischen Halbinsel gibt. Der Legende nach stammen sie alle von zwei Halbbrüdern ab, Ismael und Isaak, Hagars Sohn und Sarahs Sohn, beide Söhne Abrahams, für die Streit und Konkurrenz ein Dauerthema ist.

Zurück zu Hagar, die vermutlich in ihrem Leben als Sklavin von den meisten gar nicht richtig wahrgenommen wurde. Als versklavte Frau hatte sie keinerlei Rechte und besaß in den Augen anderer zudem nur eine begrenzte Würde. Nun war sie weggelaufen in die Wüste, wo vor ihr schon viele entflohene Sklaven zu Tode gekommen waren. Gerade an diesem lebensfeindlichen Ort aber spürt Hagar Gottes wohlwollenden und gnädigen Blick. Sie spürt, dass Gottes Blick auf ihr ruht. Diese Erfahrung führt bei Hagar zu einem Bekenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieser Satz, den Hagar sagt, kann im Hebräischen mittels zweier Worte ausgedrückt werden: El-Roi. Sie finden diese Worte auf dem Liedblatt abgedruckt. Hagar bekennt sich zu diesem Gott und gibt ihm aufgrund ihrer Erfahrung den Namen „El-Roi“.

Die Geschichte von Hagar erzählt nebenbei davon, wie eine Quelle, die als „El Roi“ bekannt war, zu ihrem Namen „Gott sieht“ gekommen ist. Vor allem aber erzählt Hagars Geschichte von einer rettenden Begegnung mit Gott, der jeden einzelnen sieht. Dafür sind besondere Orte keine Voraussetzung. Sicherlich hat man beim Betreten einer Kirche manchmal das Gefühl, Gott ist nahe, näher als sonst. Aber Gott ist auch überall und begegnet Menschen ebenso in der Musik wie in der Natur, in der Liebe oder in großer Not. Es sind oft Momente, die sich nicht mit normalen Worten fassen lassen und auch nicht festgehalten werden können.

Die diesjährige Jahreslosung, also Hagars Bekenntnis zu dem Gott, der sie sieht, stellt uns die Frage, ob wir in diese Worte einstimmen können. Verlassen wir uns auch in diesem neuen Jahr darauf, dass wir von Gott gesehen werden? Es ist nicht immer leicht, an diesem Glauben festzuhalten. Genug Vertrauen zu haben. Wenn scheinbar Gebete verhallen, Bitten, ja Flehen nicht erhört wird, Lebenswünsche sich nicht erfüllen wollen oder uns sogar großes Leid trifft. Dann scheint Gott doch eher fern und verborgen, dann kann leicht der Eindruck entstehen, dass Gott uns nicht sieht. Immer wieder haben Menschen diese Erfahrung gemacht. Ihre Fragen und ihre Klagen sind in unserer Bibel zum Beispiel in den Psalmen des Alten Testamentes in Worte gefasst. Bis hin zu dem Psalmvers, der nach den Erzählungen des Markus- und des Matthäusevangeliums von Jesus in seiner Todesstunde am Kreuz ausgerufen wurde: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

 

Wer sich ungesehen und unbeachtet fühlt, der kommt sich oft verlassen vor. Es tut weh, übersehen zu werden, egal in welchem Zusammenhang: In der Schule, bei der Arbeit oder beim Hobby, in der Familie oder im Freundeskreis. Im Abseits wird es einsam, genau wie es Hagar in der Wüste erfahren musste. Ich vermute, jeder kennt solche Arten von Wüstenerfahrungen. Dabei kann schnell das Gefühl aufkommen, von Gott verlassen zu sein.

Hagar macht die Erfahrung, dass Gott ihr gerade dann ganz nahe ist, als sie am wenigsten damit rechnet. Und auch in Jesus Christus will Gott uns nahe sein. Christus sieht nicht nur, was wir erleiden, sondern er ist selbst einen Leidensweg gegangen, bis in die Gottverlassenheit hinein. Deshalb weiß er ganz genau, wie es uns gehen kann, wenn wir uns nicht gesehen fühlen. Und er gibt uns die Zuversicht: Ja, Gott sieht dich. Dass Gott uns sieht, dass wir und diese Welt Gott nicht gleichgültig sind, das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse unseres Glaubens.

Und so eignet sich die Jahreslosung auch als ein kurzes Bekenntnis unseres Glaubens. „El-Roi“ - „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ In diesem Satz ist alles Wichtige enthalten, was es über Gott zu sagen gibt: Gott hat seine Schöpfung, hat diese Erde angesehen und festgestellt, dass sie gut ist. Jesus Christus nahm Menschen mit einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit und Liebe wahr, besonders auch die, die außerhalb der Gesellschaft standen und keinerlei Ansehen hatten. Der Heilige Geist schließlich vergewissert uns, dass wir bei Gott ungebrochenes Ansehen haben. Und er fordert uns gerade deshalb auf, die Menschen anzusehen, denen es an Ansehen mangelt.

 

Zu Beginn des neuen Jahres schauen wir auf dieses Bekenntnis zu Gott, auf die Jahreslosung. Das vergangene Jahr ist noch allgegenwärtig und sitzt uns in den Knochen. Das muss uns keine Angst vor dem neuen Jahr bereiten. Aber es macht uns aufmerksam für das, was auf uns zukommen könnte. Nichts ist selbstverständlich. Frieden ist nicht selbstverständlich, Gesundheit sowieso nicht, auch ein Dach über dem Kopf und das tägliche Brot sind nicht selbstverständlich. Sicher wird es auch im Jahr 2023 Wüstenzeiten geben.

 

Wohl dem, der immer wieder an das Vertrauen aus dem alten Kinderspiel anknüpfen und erkennen kann: Das bekannte Gegenüber ist nach wie vor da, trotz der Hände vorm Gesicht. Wohl dem, der Gott entdeckt als den, der im Blick hat, was geschieht. Der alles sieht, auch wenn er verborgen zu sein scheint.

Wohl dem, der spürt: Gott behält mich im Blick. Ich werde gesehen und anerkannt, und zwar so, wie ich bin.

Wohl dem, der immer wieder sagen kann: „El-Roi“ - „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Amen.

Ihre Pastorin Heidrun Gunkel

Pastorin

Dr. Heidrun Gunkel
Luisenstraße 11
Peine