Wie hätten Sie entschieden, liebe Leser?
Eine Falschaussage ist auch heute noch kein Kavaliersdelikt. Dennoch wurde dem 2. Petrusbrief sein Platz im Neuen Testament zugestanden. Das liegt daran, dass das Verfassen einer Schrift unter dem Namen einer bekannten Autorität wie Petrus im 2. Jahrhundert nach Christus ein gängiges Stilmittel war. Der Verfasser des 2. Petrusbriefes betrachtet sich als Botschafter des Evangeliums von Jesus Christus, als er in dem Brief dieses Stilmittel einsetzt. Aus dem Brief stammt der Text, der für den heutigen Sonntag vorgesehen ist:
16 Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. 17 Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. 18 Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. 19 Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.
Seine Absicht benennt der Verfasser in den unmittelbar vor diesem Text liegenden Versen: Er will durch Erinnerung wachhalten. Mit allen Mitteln versucht er, daran zu erinnern, was die Apostel von Jesus erzählt und bezeugt hatten. Dass Jesus der Messias ist. Das Licht der Welt. Der Stern, der verheißen worden war. Wach halten und erinnern will er, bis der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Die Apostel waren die Augenzeugen des Jesusgeschehens. Sie waren dabei gewesen. Sie hatten erlebt, wie Blinde wieder sehen und Gelähmte wieder gehen konnten. Sie hatten gesehen, wie Jesus die Ausgestoßenen, diejenigen, die etwas falsch gemacht hatten, an seinen Tisch holte. Sie hatten erfahren, dass es nach dem Tod eine Zukunft gibt. Was sie an Jesus von Nazareth und in der Gemeinschaft mit ihm erfahren hatten, wurde zur Grundlage ihres Glaubens. Die Nähe Gottes und seines Reiches, Jesus hatte sie nicht nur verkündigt, sondern für sie erfahrbar gemacht. Diese Erfahrung hatten die Apostel nach Ostern weitergegeben, so wie Jesus es ihnen aufgetragen hatte. Dass wir diese Personen als Apostel bezeichnen, zeugt noch heute davon: „Apostolos“ ist die griechische Bezeichnung für Gesandter oder Bote. „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, so konnten die Apostel als Augenzeugen sagen. Die Botschaft von der heilmachenden Liebe Gottes sollte hinausgetragen werden in die Welt. Als Unterstützung, als Antrieb und Kraft hatte Jesus den Heiligen Geist gesandt. Und 2000 Jahre lang haben Menschen, in der Nachfolge von Jesus und den Aposteln, immer wieder dieses Zeugnis abgelegt. „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“.
Diese Botschaft ist so auch uns gegeben zum Weitergeben und Teilen, zum Erinnern und Wachhalten. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen, wie die folgenden Beispiele zeigen:
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“. Wachhalten und erinnern. Bis der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Viele Jahre schon lebt sie im Altenheim. Der Pfleger fährt sie in ihrem Rollstuhl von Fenster zu Fenster. Sie ist sehr unruhig. Vor dem Fenster ist nur Baustelle zu sehen. Es regnet – ein trüber Novembertag. Besuch von Freunden oder Familie war schon lange nicht mehr da. Der Altenseelsorger setzt sich zu ihr an das Fenster. Er hat ein Gesangbuch mitgebracht und summt der alten Frau ein paar Lieder vor. Zuerst sitzt sie beteiligungslos da, wie eh und je. Doch plötzlich, beim 3. Lied, hört der Seelsorger sie leise mitsingen. „Meinen Jesus lass ich nicht … Er ist meines Lebens Licht; meinen Jesus lass ich nicht.“
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Wachhalten und erinnern. Bis der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Kinderbibeltag zum Thema „Brücken bauen“. Ca. 50 Kinder sind ins Gemeindehaus gekommen. Sie werden nach ihrem Alter in Gruppen eingeteilt. In der Gruppe der Zweit- und Drittklässler ist es sehr laut. Ein Junge findet keinen Platz im Stuhlkreis, weil ihn die anderen Kinder ärgern. „Dich wollen wir nicht dabei haben!“ Traurig wartet er an der Tür, bis die Mitarbeiterin den Raum betritt. Heute lernen die Kinder spielend die Geschichte vom Zöllner Zachäus und Jesus kennen. „Zachäus, Zachäus, komm vom Baum herunter, ich will dein Freund sein.“ Der vorher traurige Junge spielt nun mit und lacht.
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Wachhalten und erinnern. Bis der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Das Telefon klingt. Es klingelt eine ganze Weile. Frau Müller ist tränenüberströmt. Reden will sie jetzt nicht. Gestern erst war die Beerdigung. Dann nimmt sie doch den Hörer in die Hand. „Du, schön, dass ich dich erreiche.“ Frau Müller erkennt die Stimme ihrer Freundin. „Wie wär’s, wenn ich dich gleich abhole zum Gottesdienst. Danach können wir noch einen Spaziergang machen – nur wir zwei.“ Frau Müller sagt lange nichts. Dann bringt sie ein leises „Ja“ hervor. Gestern, der Trauergottesdienst, er hatte ihr gut getan und sie möchte eine Kerze anzünden in der Kirche.
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Wachhalten und erinnern. Bis der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Wenn wir unsere Erfahrungen und das, was wir von anderen hören, weitergeben, können wir Zeugen sein. Jeder einzelne, und sei der Beitrag auch noch so klein. Dazu braucht es keine ausgeklügelten Fabeln. Und wir dürfen wie die Apostel darauf vertrauen, dass wir dabei nicht auf uns gestellt sind.
Wachhalten und erinnern, damit der Morgenstern aufgeht in den Herzen der Menschen.
Amen
Bleiben Sie behütet und gesund!
Ihre Pastorin Heidrun Gunkel